In der Werkstatt des Riesen
In Zug soll bald ein 80 Meter hohes Hochhaus aus Holz gebaut werden. Ein Pionierprojekt, für das in der Bauhalle auf dem H?nggerberg Grundlagenforschung betrieben wird.
Auf den ersten Blick w?hnt man sich in einer Schiffswerft irgendwo im Hafenareal Hamburgs: Eine weite Halle, Neonlicht und an der Decke ein H?ngekran auf Schienen, der tonnenschwere Stahlelemente, Betonstützen und Holzbalken durch den Raum hievt. Dazu Schrauben, so lang und dick wie die Unterarme eines Erwachsenen, und Muttern mit dem Radius von Tellern – als w?re das hier die Werkstatt eines Riesen.
?Etwas zu testen, bedeutet bei uns meist, es so lange zu belasten, bis es zerst?rt ist?, sagt Dominik Werne lachend. Er leitet seit zw?lf Jahren das Bauhallen-Team des Instituts für Baustatik und Konstruktion (IBK) auf dem 竞彩足球app,竞彩投注app H?nggerberg. Gemeinsam mit vier permanenten Mitarbeitern unterstützt er die sieben Professuren des Instituts bei ihren Experimenten. Werne zeigt auf den pastellgrünen Boden unter uns, das Herzstück der Halle. Beton, ein Meter dick, zigfach mit Stahl bewehrt, sodass dieser gesamthaft mehrere tausend Tonnen Gewicht tragen kann. Wie bei einem Meccano-System k?nnen Versuchsst?nde aus teils tonnenschweren verschiedenen Elementen frei zusammengebaut werden. ?Die Planung und der Bau eines Versuchsstandes dauern oft Monate?, sagt Werne. Deutlich l?nger als die Experimente danach.
Die Prüfst?nde reihen sich rechts und links entlang eines mit gelbem Klebeband markierten Korridors. Zum Beispiel ?LUSET?, ein zehn Mal zehn Meter grosser Koloss, dessen Eingeweide aus hundert einzeln ansteuerbaren Hydraulikzylindern bestehen. Damit lassen sich mit Stahl bewehrte Betonplatten zermalmen – sch?n kontrolliert, um natürliche Bedingungen zu imitieren. Die Forschungsgruppe von Professor Walter Kaufmann führt hier auch Versuche für das Bundesamt für Strassen (ASTRA) durch, um zu testen, ob Brücken saniert werden müssen. Schr?g gegenüber steht ein weiterer Gigant namens ?MAST?. Unter massiven Stahltr?gern steht eine mit Stahl bewehrte Betonmauer von rund drei Metern L?nge und zwei Metern H?he. Metallplatten, die auf der Oberkante der Mauer liegen, k?nnen durch gewaltige Zylinder bewegt werden, um die Kr?fte eines Erdbebens in Slow Motion zu simulieren. Professor Bo?idar Stojadinovi? analysiert damit das Verhalten von Beton und Stahl unter Erdbebenbedingungen. ?Grunds?tzlich k?nnte man auch ein kleines Haus in den Prüfstand bauen und auf Erdbebentauglichkeit prüfen?, erkl?rt Werne.
Die Ingenieure und das Kreuz
?Stopp! Ich sehe hier einen ersten Riss?, ruft jemand am n?rdlichen Ende der Bauhalle. Er ist Teil einer Gruppe von sechs M?nnern, zwei vom Zürcher Ingenieurbüro ?WaltGalmarini?, drei Doktoranden des IBK und ein Techniker der Bauhalle. Sie haben sich um einen Tisch mit mehreren Computerbildschirmen versammelt; daneben steht ein knallblauer Kasten, aus dem zwei Manometer und zwei Hebel herausragen – eine handbetriebene Hydraulikpumpe. Vor dieser tempor?ren Kontrollbrücke liegt ein Holzkreuz aus einer 4,4 Meter langen Holzstütze und zwei Riegeln. Diese bestehen zur H?lfte aus demselben Buchenfurnierschichtholz wie die Stütze, sind jedoch an der Unterseite je mit einer Betonschicht unterzogen. Verbunden sind die beiden Riegel mit der Stütze durch ins Holz eingeklebte Gewindestangen. Für die Befestigung der Riegel wurde eine rund zehn Zentimeter breite Fuge mit hochfestem Vergussm?rtel gegossen. Dieser Stützen-Riegel-Knoten soll heute getestet werden. Dafür wurde das Kreuz zwischen zwei bulligen Hydraulikzylindern installiert, die durch tonnenschwere Schubw?nde aus Stahl am Boden fixiert sind.
Die Ingenieure haben sich um sieben Uhr in der Früh in der Bauhalle versammelt, um das Kreuz auf Biegen und Brechen zu belasten. Dabei wollen sie mehr über dessen Steifigkeit, Tragf?higkeit und Duktilit?t erfahren. Hoch über dem Kreuz sind an einem Stahltr?ger drei Infrarotkameras befestigt. Sie messen anhand von 78 zuvor markierten Messpunkten auf dem Beton des Kreuzes jede Verschiebung von mehr als 0,1 Millimetern. Mit diesen Werten lassen sich Kurven und Diagramme zeichnen, die zeigen, bei welcher Belastung welche Verformungen wo stattgefunden haben.
Kurz nach halb zehn und bei etwas mehr als 200?Kilonewton Zugbelastung, was einer Belastung mit 20?Tonnen Gewicht entspricht, zeigen sich erste feine Risse im Beton. Der Doktorand, der die manuelle Hydraulikpumpe für den Druckaufbau bedient, l?sst den Hebel los. Ein Mitarbeiter von ?WaltGalmarini? f?hrt den Rissen im Beton mit einem blauen Marker fein s?uberlich nach und versieht sie mit einer 2, was so viel wie Laststufe 2 bedeutet. So k?nnen die Ingenieure auch sp?ter noch nachvollziehen, bei welcher Belastung welche Risse aufgetreten sind. Sie schiessen Fotos vom aktuellen Rissbild und machen sich Notizen. Danach wird der Druck wieder abgelassen.
Pionierprojekt aus Holz
Was heute am Prüfstand der Professur für Holzbau simuliert wird, ist das Verhalten eines 80 Meter hohen Hochhauses aus Holz bei starkem Wind. Die 200 Kilonewton entsprechen ungef?hr den Kr?ften, die bei einem maximal zu erwartenden Sturm in der Schweiz auf die Holzrahmenkonstruktion des Geb?udes wirken würden. Das Kreuz im Versuchsstand ist ein kritisches Element des ?Projekt Pi?, so der Name des 80 Meter hohen Holzbaus, der ab 2022 in Zug realisiert werden soll. Das Tragwerk wird von ?WaltGalmarini? geplant, gebaut wird es vom Generalunternehmer Implenia und wissenschaftlich begleitet von Andrea Frangi, Professor für Holzbau am IBK. Es wird zu den gr?ssten Holzhochh?usern überhaupt geh?ren. Ein Pionierprojekt, da die Ingenieure vollkommen auf einen Kern aus Stahlbeton verzichten, der heute noch üblich ist. Beim ?Projekt Pi? wird dieser durch ein massives Holzrahmentragwerk aus 40 Zentimeter breitem Buchenfurnierschichtholz ersetzt.
Eine solche Bauweise ist in der Schweiz aufgrund des Brandschutzes erst seit 2015 erlaubt. Hinzu kommen Innovationen im Holzbau. ?Laubh?lzer sind zwar schwieriger zu verarbeiten, haben aber wesentlich bessere mechanische Eigenschaften als Nadelh?lzer?, erkl?rt Frangi. ?Deshalb sind sie für die hohen Lasten im Hochhausbau gut geeignet.? Durch Sch?len von Buchenst?mmen und anschliessendes Verkleben der zwei bis drei Millimeter dicken Holzfurniere entstehen Bauteile mit optimierter Tragf?higkeit bei kleineren Querschnitten. Die Folge sind leichtere Bauwerke im Vergleich zu herk?mmlichen Hochh?usern aus Beton. Und eine bessere Umweltbilanz: Pro Kubikmeter verbautem Holz wird rund eine Tonne CO? im Material gespeichert. Hinzu kommt der reduzierte Einsatz von Beton, dessen Zementproduktion circa acht Prozent der globalen CO?-Emissionen verursacht. Auch die Holz-Beton-Hybriddecke, die in ?Projekt Pi? auf 27 Stockwerken verbaut wird, ist ein Novum aus Frangis Gruppe. Sie ist 30 Prozent leichter als herk?mmliche Beton-Stahl-Decken, bei gleichbleibender Tragf?higkeit, wie Belastungstests in der Bauhalle gezeigt haben. Und auch ihr Schall- und Schwingungsverhalten entspricht den Normen.
Eine meterlange, kreuzf?rmige Beton- Holz-Konstruktion im Belastungstest. (Bild: Daniel Winkler)
Die Ingenieure begutachten die Risse, die unter Belastung aufgetreten sind. (Bild: Daniel Winkler)
Eruptiv statt duktil
?Baam!? Ein dumpfer, st?hlerner Knall durchdringt die Halle. Es ist kurz vor 16 Uhr, die Zugbeanspruchung auf die beiden Riegel betrug zuletzt 510 Kilonewton (51 Tonnen), was rund der doppelten Kraft entspricht, der das Geb?ude gesetzlich standhalten muss. An einem der beiden Riegel sind im Beton lange Risse zu sehen, rund zwei Zentimeter breit. An dieser Stelle werden die horizontalen Holz-Beton-Verbunddecken einst mit der vertikalen Holzstütze verbunden. Andreas Galmarini stürmt mit seinem Mitarbeiter zur Rissstelle, schiesst Fotos und markiert sie wiederum mit dem blauen Stift. ?Jetzt hat’s die Zugarmierung im Knoten geputzt?, sagt der Mitinhaber von ?WaltGalmarini?, der die Bauhalle noch von seiner eigenen Dissertation an der ETH kennt.
Der pl?tzliche, unangekündigte Bruch weicht von den Modellrechnungen der Ingenieure ab. Eigentlich hatten sie mit einem duktilen Verhalten gerechnet, also einer vor dem Bruch stark zunehmenden Verformung, die das Versagen ankündigt. Hier zeige sich, wie wichtig experimentelle Forschung im Bauwesen sei, sagt Frangi: ?Wir k?nnen am Schreibtisch zwar sehr viel berechnen und mit ausgeklügelter Software das statische Tragverhalten von Bauteilen simulieren. Aber solche Modelle müssen insbesondere bei Innovationen über Versuche validiert werden.?
Ein Doktorand aus Frangis Gruppe ergreift erneut den Hebel der Hydraulikpumpe und beginnt zu pumpen. Nun soll auch noch der zweite Riegel ?auf Bruch belastet werden?, wie es im Ingenieursjargon heisst. Bald zieht er den Pullover aus, das Blut steigt ihm in den Kopf, der Widerstand des Hebels wird immer gr?sser. Bei 500 Kilonewton ist für den Bruchteil einer Sekunde ein Knacken zu h?ren. Daraufhin sinkt der Widerstand, die Kurve auf dem Laptop flacht ab. ?Wundersch?n!?, kommentiert Galmarinis Mitarbeiter. ?Nun sind wir am Punkt des Fliessens angelangt.? Jetzt offenbart sich das duktile Bruchverhalten, das sich Bauingenieure für ihre Werke wünschen. Kein pl?tzliches Versagen des Tragwerks, sondern ein langsames, plastisches Verformen der Materialien.
Der Doktorand pumpt weiter; das Manometer zeigt bald 300 Bar. Derweil weitet sich ein Riss im M?rtel. Bei 550 Kilonewton knallt es wieder. Diesmal zweimal nacheinander – und noch lauter als beim ersten Riegel. Der Doktorand l?sst den Hebel fallen. Der Riss in der M?rtelfuge ist nun mehrere Zentimeter breit und gibt die Sicht auf mit Schutt überzogene Eisenstangen frei. Die enorme Kraft hat zwei der ineinandergreifenden Metallschlaufen gesprengt, die als alternative Verbindung von Riegel und Stütze getestet wurden.
Erkenntnisse, wertvoll wie Gold
Mit Smartphones und Spiegelreflexkameras dokumentieren die Ingenieure das zerst?rte Kreuz, das wie erschlafft im fahlen Licht der Halle liegt. Nochmals werden die beiden Riegel von allen Seiten inspiziert, Betonabplatzungen interpretiert und über das genaue Verhalten im Inneren des Knotens wird spekuliert. Eine Woche sp?ter wird ein zweites Kreuz mit zwei weiteren Konstruktionsvarianten getestet. Danach werden die Ingenieure von ?WaltGalmarini? zusammen mit Andrea Frangi entscheiden, welche Knotensysteme von Implenia beim Bau der 27 Stockwerke im 80 Meter hohen Holzhochhaus verwendet werden.
?Solche Daten zum Verhalten von Beton, Stahl und Holz in Extremsituationen k?nnen wir sonst nur in Regionen sammeln, in denen kürzlich ein Erdbeben oder ein Taifun getobt hat?, sagt Galmarini. Er war selbst schon für das Schweizer Korps für Humanit?re Hilfe (SKH) in Erdbebengebieten. Doch selbst dort lasse sich die Dynamik der Materialien und der Konstruktion nicht in Slow Motion verfolgen, wie hier in der Bauhalle. ?Das ist für uns wertvoll wie Gold!?, sagt der Ingenieur euphorisch und wendet sich wieder der Inspektion der klaffenden Wunde im Beton zu.
Dieser Text ist in der Ausgabe 21/01 des ETH-Magazins Globe erschienen.